Desenzano

Le Grezze

Irgendwann nach Angelas Geburt, vielleicht schon 1477, zog die Familie aus der Stadt in ein Bauernhaus am Rand des Ortes. Giovanni Merici war Landwirt, wie die Urkunden ausweisen. Ob er den Hof geerbt oder gekauft hat, ist nicht erwiesen. Ebenso wenig ist die Lage des Hofes gesichert; nach den Angaben in den „Rasse“, in denen die Campari, die Feldhüter, die zahlreichen Verfehlungen gegen die Feldordnung protokolliert haben, befanden sich die Felder der Merici im Gebiet des Machetto, unweit der heutigen Via Grezze[1]. Hier steht das Haus, in dem die ursulinische Tradition den Hof der Merici sieht und das Anziehungspunkt für Ursulinen und Angela-Freunde aus aller Welt.

Der Name „Le Grezze“ führt zu dem Wort „grezzo“, was so viel heißt wie rau, roh, unbearbeitet, wie es die Mauern dieses kleinen Landhauses sind. Vom ursprünglichen Gebäude gibt es heute nur noch den linken Teil, bestehend aus drei Räumen und einer Veranda. Elisa Tarolli, eine der besten Angela-Kennerinnen, drückte es vorsichtig aus, indem sie sagte: „Ein Haus wie dieses“[2]. Hat Angela hier ihre Kindheit und Jugend mit der Familie verbracht und später noch einmal zwanzig Jahre hier allein gelebt? Jedenfalls bekommt man ein lebendiges Bild davon, wie sie gelebt hat.

Bis vor wenigen Jahren war alles noch weniger gepflegt, mit dem –charme des Ursprünglichen. Seid die italienische Provinz der Römischen Union das Haus stellvertretend für alle Ursulinen zurückgekauft hat, ist manches renoviert worden.

Im Innenhof erhielt das Pflaster aus Flusskieseln einen Weg aus Marmorplatten aus den Steinbrüchen von Botticino nahe Brescia, er führt zum Brunnen hinüber. An der Mauer zur Straße wird Angela Merici selbst zitiert: Per il tuo santo nome, Signore: il qual sia benedetto sopra l'arena del mare, sopra le giozze delle acque, sopra la moltitudine delle stelle. (… wegen deines heiligen Namens, dem mehr Lob gebührt, als es Sandkörner am Meer und Tropfen im Wasser gibt, und mehr noch als die Zahl der Sterne)[3] . Und darunter steht auf einer angeschnittenen Sonnenscheibe „Orsoline secolare e religiose - Una Famiglia attorno alla madre“ (Ursulinen in Säkularinstituten und Orden - Eine Familie rund um die Mutter) [Bild MP]. Strahlen aus rotem Veroneser Marmor zählen die Länder auf, in denen es Gemeinschaften der Ursulinen in aller Welt gibt. [Schriftzug „Germania“]

Von der Pergola tritt man in die Küche. Der Boden ist mit abgenutzten Steinplatten bedeckt, die Wände aus Natursteinen sind teilweise gekalkt, die Decke besteht aus einfachen Holzbrettern. Unter einer Glasplatte ist der ursprüngliche Boden freigelegt. Das Inventar stammt nicht aus der Zeit, aber man bekommt eine grobe Vorstellung davon, wie es war: der offene Kamin, die Wandöffnung für die Lampe, ein paar Küchengeräte… [Fotos]. Im Winter war dies sicher der einzig warme Raum der Familie Merici. Angela hat als Kind der Mutter bei den Hausarbeiten geholfen. Ausdrücklich wird gesagt, dass es zu ihren Aufgaben gehörte, den Lehmboden zu fegen, während die älteren Geschwister, eine Schwester und zwei Brüder, die Ziegen und Ferkel und später auch Rinder im Machetto weideten und dabei allerlei Unsinn trieben, der dem Vater Geldbußen des Feldaufsehers einbrachte.

In der Küche liegt auch das Gästebuch. Wer ein bisschen darin blättert, kann entdecken, wer in der letzten Zeit da war…

Die steile Holztreppe mit den ausgetretenen Stufen führt geradeaus in Angelas Zimmer. Die einfache Liege ist nachgebildet: eine kürzlich erneuerte Strohmatte und der Holzklotz für den Kopf, damals sicher ein verbreitetes „Kopfkissen“, etwas hart vielleicht, aber in der Form nicht ungesund für die Nackenwirbel. Jedenfalls war es wohl kein Objekt der Buße! Kreuz und Truhe und vielleicht ein Stuhl gehörten zur üblichen Einrichtung. Dieser Raum ist eine Einladung, Angela nahezukommen, über ihr Leben ohne Eitelkeiten nachzudenken und es mit der eigenen Berufung und der Verwirrenden Komplexität heutigen Lebens in Beziehung zu setzen.

Die großen Glasschränke sind ein Tribut an die Besucher, die etwas aus der reichhaltigen Angela-Literatur in ihrer Sprache mitnehmen möchten. [neues und altes Foto]

Auf dem Balkon hat der Vater Merici vielleicht an Sommerabenden die Geschichten aus der Legenda aurea vorgelesen, die Angela so gefesselt haben, dass sie es den Heiligen gleichtun wollte. Vor allem die Ursula-Legende hatte es ihr angetan. [Calcinardi-Bild]

Heute bieten hier die beiden Ursulinen, die im Obergeschoss wohnen, den Mitschwestern aus aller Welt gelegentlich einen Cappuccino oder Aqua minerale an.

Die Kapelle ist in den letzten Jahren neu gestaltet worden. Die helle Decke lenkt die Aufmerksamkeit zum Altarraum mit der Ikone, die Paolo Orlando auf die Wand gemalt hat: Jesus am Kreuz und Maria, Johannes und der Soldaten Longinus stehen darunter. Zu Füßen des Gekreuzigten kniet Angela. Der Satz aus dem letzten Gedenkwort ist hier Bild geworden: „Und immer sei eure erste Zuflucht zu des Füßen Jesu Christi.“ Für ihre Töchter fügt sie hinzu: „Dort verrichtet inständige Gebete…“

Hat Angela mit diesem Rat nicht nur den gekreuzigten Jesus, sondern auch Maria, die Schwester der Martha, im Sinn gehabt: „Maria aber saß zu Füßen des Herrn und hörte ihm zu.“ Hörend zu Füßen des Lebendigen – auch das entspricht Angelas Spiritualität.

Die großen abstrakten Glasfenster am Eingang und in der Apsis hat Costantino Ruggeri gestaltet. Er versucht damit, zu einer modernen Deutung der Spiritualität Angela Mericis beizutragen.

„Le Grezze“ war für Angela der Ort ihrer glücklichen Kindheit, aber hier erlebte sie auch deren abruptes Ende, als ihre geliebte Schwester und beide Eltern relativ schnell nacheinander starben. Wir wissen nicht sicher die Reihenfolge, aber die Mutter starb wohl als letzte. Auch die Todesursache ist nicht überliefert; wahrscheinlich war es eine der vielen damals meist tödlichen Infektionskrankheiten. Als Jahr wird meist 1492 genannt, aber genau wissen wir es nicht. Angela muss 17 oder 18 Jahre alt gewesen sein. Die Familie des Onkels nahm sie auf, möglicherweise zusammen mit einem jüngeren Bruder, während die älteren Brüder wohl in Desenzano blieben. So kam Angela nach Salò. Etwa fünf Jahre später kehrte sie hierher zurück. Inzwischen war sie Franziskanertertiarin geworden und hatte ihr Leben selbst in die Hand genommen. Ihren Lebensunterhalt bestritt sie durch die Feldarbeit; sie bekam Hilfe von den Nachbarn und half ihrerseits, wie es auf dem Land üblich ist. Sie besaß Ackerland und einen Weinberg . Fast zwanzig Jahre lebte sie hier allein.

„Le Grezze“ ist der Wurzelgrund für Angelas Spiritualität. Aus der Geborgenheit in der Familie mit ihrer selbstverständlichen Religiosität und aus der Einfachheit des Lebensstils entspringt die Weite ihres Gottverstrauens, die auch ihr Apostolat prägt. „Die Fußspuren Angelas“ können auch für die Besucher dieses Ortes Schritte des Glaubens werden. „Le Grezze“ lädt ein, diese Schritte gemeinsam mit den Ursulinen in aller Welt zu gehen – „Insieme“.

 

Weiter

Zurück


[1] MaTaSey, it. S. 74; dt. S. 86
[2] mündlich
[3] Angela Merici, Regel - Ricordi - Legati, Werl 1992, S. 18f

 

 

im Hof

 

im Hof

 

 Detail der der Küche

 

 Angelas Zimmer

 

 Calcinardi - Familie Merici

 

 Kapelle

 

 Ruggeri - Farbfenster in der Kapelle

 

 im Hof