„Gott hat den Menschen zum Bild seines eigenen Wesens gemacht.“ Diesen Vers aus dem Buch der Weisheit (2,23) hörten wir im November gleich zweimal in einer Messlesung. Einmal tauchten vor meinem Auge zutiefst traurige, schmerzverzerrte und verzweifelte Menschengesichter aus den Kriegs- und Hungergebieten unserer Erde auf – wie auch Soldatenbilder, denen die Härte des Lebens, Hilflosig-keit, manchmal auch das Böse wie aufs Gesicht geschrieben standen. Und ich erinnerte das Christusbild und ein Wort, das ich vor langer Zeit las: Jesus von Nazareth – ‚Gott wie aus dem Gesicht geschnitten‘ 1
Wir sind auf dem Weg zum Weihnachtsfest. Gott schenkt uns neu ein Bild von sich - das Bild des unbeholfenen, hilfsbedürftigen Kindes, das den Weg in die Herzen der Menschen sucht. Mit ihm schenkt er uns seinen Sohn, der dreiunddreißig Jahre lang den Fragen auch unseres Lebens standgehalten hat.
Seit der Menschwerdung Gottes in Jesus von Nazareth, spiegelt sich in jedem menschlichen Gesicht die Ikone Christi: Gott kommt uns entgegen in den Menschen, die uns jeden Tag begegnen, alltäglich und geheimnisvoll zugleich. Jeder trägt den Fingerab-druck seines Schöpfers. Jedes Gesicht ist außergewöhnlich. Es gibt kein Allerweltsgesicht. Vor den flüchtigen Bildern gequälter Menschen in den Nachrichten möchten wir bisweilen die Augen verschließen; sie prägen sich uns trotzdem tief ein. In einem Gesicht unserer Alltagsbegegnungen zu lesen jedoch braucht es oft Zeit – und es braucht den Blick des Herzens; denn jeder Mensch ist einmalig: die Züge in seinem Gesicht, die Linien in seiner Hand - kein Fingerabdruck wiederholt sich. Jedes Gesicht ist eine Offenbarung Gottes. Jedes Gesicht ist seine Erscheinung, kann für uns zur Epiphanie werden. Gerade Gesichtslose und Entstellte dürfen sich ihm zeigen, erfahren bei ihm Angesehen-sein. Finden sie es auch bei uns?
Das Fest der Menschwerdung Gottes gibt mir neue Impulse im Blick auf meinen Gott, im Blick auf die Menschen, im Blick auf mich selbst:
Jesus von Nazareth - „Gott - wie aus dem Gesicht geschnitten“.
Jesus von Nazareth - bin ich ihm „wie aus dem Gesicht geschnitten“ in meinem Tun und Lassen, in hellen und dunklen Stunden, hier und heute?
Inmitten aller Sorgen und Ängste wünsche ich uns Zuversicht und Hoffnung, die unbeirrbare Sehnsucht auch, dass der Friede stärker ist als Gewalt, das Licht stärker als die Dunkelheit. Ich wünsche uns die Gewissheit, dass die Weihnachtsfreude in Jesus von Nazareth ihren Grund und ihre Berechtigung hat.
Sr. Benedicta Kimmeyer, Dorsten
1 Hermann Josef Silberberg, in: Eine Spur der Liebe hinterlassen, dialogverlag, Münster, 2006
Bild: Herkunft unbekannt
zur Druckversion
Himmlische Biografie
Die Liebe befreit sich
aus den göttlichen Gesetzen
himmelreiner Ordnungen
fürchtet nicht das Exil
und sucht eine Bleibe
in der brüchigen Heimat Mensch
Hier lebt sie
uns aus dem Gesicht geschnitten
Wilhelm Bruners, in BEI ZEITEN
Tyrolia-Verlag Innsbruck – Wien 2023