Das Oratorium

Den von Elisabetta Prato zur Verfügung gestellten Raum ließ Angela zu einem Gebetsraum, einem Oratorium, umgestalten und mit Fresken ausschmücken. Diese Ausgestaltung gibt Aufschluss über das Selbstverständnis der Frauen, die sich dort trafen. Die Motive der Fresken spiegeln die Spiritualität der ersten Ursulinen wider: An der Rückseite des Raumes, sozusagen an der „Altarwand“, befand sich eine Darstellung Christi am Kreuz, umgeben von trauernden Engeln. Daran schlossen Szenen aus dem Leben Jesu und Marias an: die Verkündigung an Maria, die Geburt Jesu, die Darstellung Jesu im Tempel und die Himmelfahrt Marias. Weitere Fresken zeigten brescianische Heilige – Faustinus, Jovita und Afra – sowie Frauen, die in der Gemeinschaft offenbar eine besondere Verehrung genossen: die altchristliche Witwe Paula mit ihrer Tochter Eustochium (vielleicht in Analogie zum Verhältnis der beiden Gruppen – ältere Witwen und jüngere Jungfrauen – unter den Ursulinen), sowie Ursula und Elisabeth von Thüringen.
Elisabeth kam wohl als Namenspatronin Elisabetta Pratos besondere Bedeutung zu. Sie war jedoch nicht wie üblich umgeben von Armen und Kranken dargestellt, sondern im Kreis junger Mädchen. Auf einer der beiden Tafeln hilft sie Mädchen beim Spinnen, auf der anderen bedient sie sie bei Tisch. Beides war sicher eine Anspielung auf die Tätigkeit der ersten Ursulinen, die zwar in den Hospitälern arbeiteten, aber nicht so sehr mit der Krankenpflege, als mit der sozialfürsorglichen und seelsorglichen Betreuung der Außenseiter, vor allem der Waisen und der „Büßerinnen“, beschäftigt waren. Das letzte Fresko im Oratorium war schon früh so stark beschädigt, dass nicht mehr überliefert ist, was es dargestellt hat. Möglich ist, dass es sich hier um Katharina von Alexandrien handelte, die ja für die Spiritualität der Ursulinen ebenfalls eine zentrale Rolle spielte.

Nach: A. Conrad, Mit Klugheit, Mut und Zuversicht, Mainz, 1994, S. 58f