BRESCIA

 

 

 

 

Die Gründung der Compagnia di Sant‘Orsola

Als Angela bei S. Afra wohnt ist sie etwa 60 Jahre alt. Von der Schau von Brudazzo sind fast 40 Jahre vergangen. Sie hat Wallfahrten gemacht: ins Heilige Land, nach Rom, nach Mantua, nach Varallo. Sie führte ein Leben des Gebetes, des Hörens auf den Heiligen Geist und ein Leben der Begegnung mit den Menschen, des Hörens in die Zeit. Angela bekommt die Nöte der Menschen mit, besonders der jüngeren Frauen, die religiös leben möchten, aber nicht in ein Kloster gehen wollen – die Klöster haben damals wohl zu Recht keinen guten Ruf – oder nicht gehen können, weil man eine Mitgift braucht, um aufgenommen zu werden. Also bleibt ihnen nur die Ehe, denn dass eine Frau allein lebt, ohne männlichen Schutz, ist undenkbar: „Mann oder Mauer“ heißt der gesellschaftliche Grundsatz.

Angela sammelt um sich junge Frauen, die genau das suchen, was sie ihnen vorlebt. [Bild Stich Angela mit 6 Frauen]. Angela vermittelt ihnen ein solides religiöses Fundament. Und sie entwickelt gemeinsam mit ihnen eine Lebensform, die sich schließlich in einer Regel niederschlägt.

Sie legt alles klug an: die Struktur, indem sie Brescia in vier Bezirke aufteilt und jedem Bezirk eine eigene Leiterin gibt; die Leitung, indem sie den jungen Frauen zwar die Verantwortung überträgt, ihnen aber ältere Frauen aus dem Kreis der Witwen zur Seite stellt und sogar eine Art Kollegialer Beratung vorschreibt, in der sie ihre Leitung gemeinsam überprüfen sollen. Und sie engagiert vier Männer, um den Frauen in Rechtsfällen zu helfen (denn Frauen sind damals nicht geschäftsfähig!).

Für die weitere Entwicklung ist es hilfreich, das Gemälde in der Krypta noch einmal genauer anzuschauen [Bild „Gründung“ - Unterkirche]. Gabriele Cozzano, Angelas Sekretär und Freund bezeugt, dass sie den entstehenden Text der Regel immer mit den Frauen bespricht. Dieses Bild zeigt: Die Frauen sind miteinander im Gespräch über etwas in dem Buch, das fast alle in der Hand haben. Eine blättert darin, hat wohl einen wichtigen Satz gefunden. Andere hören zu, zwei haben die Hand aufs Herz gelegt, zwei halten sich im Hintergrund – es sieht so aus, als habe der Maler sie später zugefügt. Angela ist keineswegs dominant. Aber sie weist mit der rechten Hand aus dem Kreis hinaus, als wolle sie sagen: Es gibt noch mehr als diesen kleinen Kreis von Personen. Und über allem schwebt der Heilige Geist.

Schließlich diktiert sie Cozzano die endgültige Formulierung. Warum diktiert sie? Jemand, der wie sie so viel gelesen hat, kann auch schreiben, aber sicher nicht so flüssig wie der Literaturprofessor Cozzano. Diese Urschrift der Regel ist im Verlauf des Seligsprechungsprozesses verloren gegangen, so dass man jahrzehntelang auf die erste bei Turlino gedruckte Fassung zurückgriff. Mitte der 80er Jahre fanden Mariani, Tarolli und Seynaeve bei ihren Forschungen in der Biblioteca Trivulziana in Mailand ein Manuskript, das sie nach Einschätzung der Autorinnen „nur wenig jünger als das verlorengegangene Original“ ist und das den Blick auf diese Regel geschärft hat. [Faksimile-Seite aus MaTaSey]

Als Angela den Eindruck hat, dass die Kerngruppe genügend vorbereitet ist, geht sie einen Schritt weiter: Am 25. November 1535 kommen sie alle zur Frühmesse zusammen, wahrscheinlich in dieser Kirche Sant‘Afra. Danach gibt es eine schlichte Zeremonie: Ein Buch ist vorbereitet, Angelas Name steht als erster darin, und die 28 anderen schreiben ihren Namen darunter. Von jetzt an nennen sie sich „Compagnia di Sant’Orsola“. Dann gehen sie auseinander, jede an ihr Tagewerk. Dieses Ereignis ist ebenfalls im Bild dokumentiert: Auf der Stuhlwange links steht LA SANTA MADRE ANGELA APRE LA SUA REGOLA ET FONDA LA COMPAGNIA NEL GIORNO DI S. CATTERINA MDXXXV .

Wo diese Gründung stattgefunden hat, gehört zu den offenen Fragen: Ob es in der Kirche Sant’Afra war oder im Oratorium am Domplatz, ist nicht überliefert. Tatsache ist aber, dass mit dieser schlichten Zeremonie das erste Säkularinstitut der Kirchengeschichte gegründet wurde: Frauen haben nun einen Weg, um „in der Welt“ religiös leben können!

Festigung der Gemeinschaft

Dies war zwar ein wichtiger Schritt. Aber Angela weiß, dass die neue Gemeinschaft noch gefestigt werden muss. Und dass ihr in ihrem Alter nicht mehr viel Zeit bleibt.

Am 18. März 1537 findet das erste Kapitel der Compagnia statt. Diese Versammlung wurde nötig, weil die Gemeinschaft wegen einer Erbschaft eine offizielle Vertreterin haben muss. So wird Angela einstimmig zur „madre, ministra e tesoriera“ gewählt. Die Urkunde sagt, dass dies „in coquina domus habitationis infrascripte domine. Sur Angele […] site contrata Sancte Afre…“ stattgefunden hat, also in der Küche ihres Wohnhauses. Danach läuft das Leben der Compagnia in ruhigen Bahnen. Jährlich werden am 25. November neue Mitglieder aufgenommen. Im Jahre 1540 sind es bereits 150 .

 

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Die ersten Ursulinen